Arbeitsstelle "Geschichte griffbereit" an den Instituten für Philosophie und Geschichte
Das Handbuch: Rezension der Neuausgabe 2002 in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft
Imanuel Geiss, Geschichte griffbereit. 6 Bde. Hardcover im Schuber. Erw. u. überarb. Neuausg., Wissen Media Verlag, Gütersloh/München 2002; € 69,95.
Soweit es der Rezensent übersieht, ist das seit 1979 erscheinende, monumentale Nachschlagewerk ‚Geschichte griffbereit’ von Imanuel Geiss noch nie in einem deutschsprachigen geschichtswissenschaftlichen Fachorgan besprochen worden – was tatsächlich einiges über die Wertschätzung eines programmatisch und praktisch studienfördernden und benutzerfreundlichen Kompendiums innerhalb der deutschen geschichtswissenschaftlichen Fachkultur, aber nichts über die Qualität dieses unverzichtbaren universalgeschichtlichen Hilfsmittels aussagt. Die erste, von der Volkswagen-Stiftung unterstützte Auflage von ‚Geschichte griffbereit’ erschien 1979 bis 1983 bei Rowohlt, eine überarbeitete zweite 1993 bei Harenberg. Die nun vorliegende erweiterte und überarbeitete Neuausgabe im Hard-coverformat ist also die dritte Fassung einer Mischform von Handbuch und Lexikon. Von Anfang an war ‚Geschichte griffbereit’ die einsame Leistung eines einzelnen Neuzeithistorikers, der angesichts frustrierender Erfahrungen mit studentischem Nicht-Wissen nicht resignierend in Studentenverachtung verfiel, sondern eine so kreative wie grundsolide Lösung für das Problem entwickelte. Da es die Art von universalem Nachschlagewerk zwischen Theodor Schieders ‚Handbuch der europäischen Geschichte‚ und den zahlreichen monographischen Reihen, nicht gab, füllte er die Lücke selbst, und man kann in der europäisch-atlantischen Historiographie lange suchen, um für diesen Mut zur Synthese den Präzedenzfall zu finden. Ganz sicherlich wirkte als deutsches Vorbild dabei der stark didaktische Stil von Geiss’ Lehrer Franz Schnabel, dem in den letzten dreißig Jahren wohl am meisten unterschätzten deutschen Universal-Historiker des 20. Jahrhunderts. Ihm ist die dritte Ausgabe von ‚Geschichte griffbereit’ zu recht gewidmet.
In der Erstausgabe von 1983 äußerte sich Geiss zu seiner Motivation für eine derart enzyklopädische Unternehmung: die unbestreitbar notwendige nachholende Modernisierung der deutschen Geschichtswissenschaft durch die theorieorientierte Sozialgeschichte habe die Ereignisgeschichte marginalisiert. „Das Ausschwingen des Pendels ging so weit, daß eine neue Einseitigkeit entstand in der Konzentration auf Themen, die die bisher vernachlässigten Aspekte behandeln. Dazu kam, daß das Bemähen um Gesetzmäßigkeiten und Prognosen zu einem solchen Verfall der Kenntnisse von geschichtlichen Fakten geführt hat, daß damit die historische Dimension selber aufgehoben schien (…).“ (I. Geiss, Geschichte griffbereit, Bd. 1. Reinbek 1979, S. 7). Was das für Studierende der Geschichtswissenschaft lernpraktisch bedeutet, umriß Geiss in der Einführung zur zweiten Auflage: „Die Hilflosigkeit, mit der Anfänger ohne gute Vorkenntnisse und wirklich brauchbare Anleitungen den ohnehin riesigen Bibliotheken zur Geschichte gegenüberstehen, führte zur Lähmung oder Flucht in die Bequemlichkeit des mit einem Dutzend Formeln auskommenden Historischen Materialismus dogmatischer Prägung.“ (I. Geiss., Geschichte griffbereit, Bd. 2. Dortmund 1993, S. 25). In der Neuausgabe schildert Geiss sehr persönlich die für ‚Geschichte griffbereit’ maßgebliche Ausgangslage an der von ihm mitbegründeten Reformuniversität Bremen Mitte der 1970er Jahre (S. 9 f.) unter dem Motto „Wissen gegen Ignoranz“.
Die Struktur des seit der ersten Ausgabe in die Bände ‚Daten’, ‚Personen’, ‚Schauplätze’, ‚Begriffe’, ‚Staaten’ und ‚Epochen’ gegliederten Nachschlagewerks beruht auf klaren Prinzipien (S. 9-17): auf dem Bemühen, keine Details als bereits bekannt vorauszusetzen, sondern den Einstieg in jedes beliebige Thema der Universalgeschichte durch Ansätze aus verschiedenen, aber ineinandergreifenden Perspektiven zu erleichtern, damit sich durch Wiederholung aus anderem Blickwinkel Zusammenhänge ergeben; auf der Rehabilitierung der Notwendigkeit des Lernens historischer Fakten, und zwar nicht als antiquarischer Selbstzweck oder als monumentalische Selbstverständlichkeit der historischen Selbstvergewisserung, sondern als elementare Verständnisvoraussetzung aller kritischen Struktur- und Problemgeschichte; auf der Verweigerung gegenüber einer notorischen Überbetonung der neuesten und Zeitgeschichte auf Kosten der frühneuzeitlichen, mittelalterlichen und alten Geschichte; auf einem universalgeschichtlichen Anspruch; auf der Umsetzung der didaktischen Stoffgliederung vom Allgemeinen zum Besonderen; auf der Betonung der objektiv-vorfindlichen, aller subjektiven ‚Erfindung’ von Geschichte vorausliegenden historischen Grundfaktoren Zeit und Raum – Johan Huizinga, Lucien Febvre und Fernand Braudel hätten es aus ihren jeweils eigenen Ansätzen heraus nicht anders gesehen und formuliert; schließlich auf der Herausarbeitung von Kontinuität und Diskontinuität durch die Erläuterung von Zäsuren und Symboldaten: „Zugleich provozieren dynamisch gewendete Symboldaten, -personen, -orte und –begriffe problemorientiertes Nachdenken über den historischen Prozeß und die in ihm sich wandelnden Strukturen: Prozesse sind überwiegend chronologisch-dynamisch zu verstehen, Strukturen eher systematisch-statisch, obwohl auch sie ständig dem Wandel durch Zeit unterworfen sind. Für die Analyse von Geschichte gehören beide Dimensionen zusammen (…).“ (S. 16).
Wer kennenlernen will, wie ‚Geschichte griffbereit’ diese Prinzipien in ein sechsbändiges Nachschlagewerk umsetzt, sollte das zunächst anhand eines möglichst randständigen Themas wie z.B. der Ursachenanalyse für den Aufstand der Niederlande ab 1566 tun: über das Stichwortregister des ‚Begriffe’-Bandes gelangt man zum Überblicksartikel ‚Niederländischer Unabhängigkeitskrieg’, in dem auf weitere Schlüsselbegriffe wie Bildersturm, Seegeusen etc. sowie auf Schlüsselpersonen wie Wilhelm von Oranien und Herzog Alba verwiesen wird. Personen und Schauplätze werden in den entsprechenden Bänden vertieft behandelt, der ‚Staaten’-Band bietet einen Überblick zur niederländischen Geschichte im chronologisch-thematischen Durchgang, der ‚Epochen’-Band kontextualisiert das Thema in der europäischen Geschichte seiner Zeit. Die angegebene Literatur soll eine selbständige Beschäftigung erleichtern. Besonders die Bände ‚Staaten’- und ‚Epochen’ verführen immer wieder zum Weiterlesen.
Kurz: was bei Geiss als „Autopsychotherapie zur Heilung des traumatischen Ignoranzschocks“ (S. 10) begann, ist zum Universalkompendium geworden, das auf dem Markt nicht seinesgleichen hat. Es kann jedem Studierenden der Geschichtswissenschaften und jedem historisch Interessierten besten Gewissens zur Anschaffung empfohlen werden, und das kann man nur von wenigen Produkten der deutschen Fachhistorikerzunft, in der Regel am allerwenigsten von denen der ‚theoriegeleiteten’ Schule, behaupten.
ROLF-ULRICH KUNZE, KARLSRUHE (ZfG 51 (2003), H. 3, S. 271 f.)
Der Hauptautor und Begründer des Handbuchs: Prof. Dr. Imanuel Geiss
Imanuel Geiss, * 1931 in Frankfurt am Main, studierte u.a. bei Franz Schnabel in München, wurde mit einer Arbeit über den polnischen Grenzstreifen 1914-18 bei Fritz Fischer 1959 in Hamburg promoviert und ebenfalls dort mit einer Studie über den Panafrikanismus 1968 habilitiert. An Fritz Fischers einflussreichem Standardwerk ‚Griff nach der Weltmacht’ (1961) über die deutsche Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg hatte Geiss mitgearbeitet. Von 1973 bis 1996 lehrte Geiss neuste und Zeitgeschichte an der Universität Bremen. Geiss gehört zu den profilierten, international anerkannten deutschen Neuzeithistorikern seiner Generation und war an allen großen Historikerkontroversen seit den 1970er Jahren aktiv beteiligt.